Corona in Haiti: Mediziner im Krankenhaus

Corona wütet in Haiti: „Mein Herz brennt in mir“

Die Coronasituation in Haiti spitzt sich zu, die Patienten und ihre Familien leiden; der Druck auf alle Betroffenen und Beteiligten nimmt zu. Ein persönlicher Bericht von Pater Richard aus Port-au-Prince.

Pater Rick leitet die nph-Aktivitäten in Haiti. Damit ist er auch zuständig für die medizinischen Dienste, Krankenhäuser und die Versorgung der Covid-19-Patienten. Als Theologe und Mediziner trifft ihn die um sich greifende Krankheit doppelt. Hier ein aktueller Brief von ihm aus Port-au-Prince an alle, die nph nahestehen oder die sich mit ihm um das Wohlergehen der Ärmsten im armen Land Haiti sorgen.

Pater Richard Frechette - Leiter von nph haiti

Pater Richard Frechette verantwortet die Hilfe von nph Haiti.

Liebe Familienmitglieder und Freunde,

ich erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht, als sie mich einen Mörder schimpfte. Sie schrie mir dieses Wort mit aller Kraft entgegen, ihre Halsadern und Augen schwollen an, ihr Gesicht war verzerrt vor Wut. Sie spuckte mich an und verfehlte mich. Ihre 18-jährige Schwester Sonja war gerade in der Coronaabteilung unseres St.-Luc-Krankenhauses gestorben.

Wir stehen in diesen Tagen einigen sehr mächtigen Kräften gegenüber: dieses neue, unbekannte, sich verändernde und todbringende Virus; die große, von Panik genährte Angst, die die Krankheit auf allen Ebenen verursacht; das explosive Aufeinandertreffen von Schulmedizin und traditionellen spirituellen Glaubensvorstellungen und das wütende Misstrauen der Menschen gegenüber Verantwortlichen und Institutionen.

Angesichts all’ dieser Umstände verstand ich die Wut dieser Frau nur zu gut. Sie, ihre Schwester, ihre Familie fielen den medizinischen Grenzen zum Opfer, die uns wegen der strengen Isolationsbeschränkungen auferlegt wurden. Und Sonja bezahlte das mit dem Leben. Gleichzeitig durfte die Familie die Quarantäne nicht verlassen und einen Wunderheiler für Sonja aufsuchen, obwohl sie sich verzweifelt danach sehnte. Sonja ging es sehr schlecht und sie litt zudem an Vorerkrankungen. Jetzt war sie tot.

Noch schlimmer war, dass ihr COVID-Test mit einer Verzögerung von vier Tagen eintraf – nur fünf Stunden nach ihrem Tod. Er war negativ. Das Timing war fürchterlich, es verspottete und verhöhnte uns und unsere Bemühungen.

Ein anderer unserer Patienten ist Dormond. Er ist 20 Jahre alt und sehr krank. Er wurde positiv auf das gefürchtete Virus getestet. Er weiß das, ist aber überzeugt, dass er vom Zombie eines Menschen besessen ist, der an dem Virus gestorben ist. Dormond ist ein wirklich liebenswerter Mensch. Man kann nicht anders, als zu mögen, was noch von ihm übrig ist. Man kann nicht anders, als ihm zu helfen und ihn aufzumuntern.

Auch wenn er das Gefühl hat zu ersticken, sucht er schnell nach seiner Maske, wenn sich ihm jemand nähert. Er will verhindern, dass wir seine Krankheit bekommen. Auf dem Röntgenbild ist seine Lunge fast vollständig weiß. Er ist am ganzen Körper geschwollen, er sieht Dämonen und böse Geister, die ihm das Leben nehmen wollen, und er fleht mich an, sie zu verjagen.

Was mache ich als Geistlicher in dieser Situation? Ich kümmere mich so gut wie möglich um Dormond, indem ich meine Arme gen Himmel strecke und die Macht Gottes, der Engel und Heiligen beschwöre, während ich für mich unsichtbare, aber für ihn nur allzu reale Geschöpfe mit dem Kreuz verjage. „Möge das heilige Blut Jesu zwischen dir und allem Unheil stehen!“ lautet mein beschwörendes Gebet für ihn.

Auch Claire ist in einer miserablen Situation. Ihre Unterkunft im Armenviertel Cité Soleil in Port-auf-Prince wurde kürzlich durch die Bandenkriege niedergebrannt. Sie ist nur noch Haut und Knochen und mit ihren vier Kindern auf der Flucht. Das älteste, ein Sohn, ist 13 Jahre alt. In diesem Augenblick sitzt er – soweit es die Isolation erlaubt – geduldig vor unserem St.-Luc-Krankenhaus.

Immer, wenn wir der ausgehungerten Claire etwas zu essen anbieten, besteht sie darauf, es zuerst ihrem Sohn zu geben. Sie isst dann, was er ihr übrig gelassen hat. Ich habe den beiden gerade etwas Hühnchen gebraten und ihrem Sohn einen dicken Bademantel gegeben, damit er heute Nacht nicht friert. Auch etwas Pappe konnte ich ihm geben, um darauf zu schlafen. Mehr habe ich nicht für die beiden.

Der Glaube ist ein Geschenk. Hoffnung ist ein Geschenk. Sie sind Geschenke für uns. Sie sind Geschenke für unsere Zeit.

Mein Herz brennt in mir, wenn ich sehe, wie Dormond um sein Leben kämpft. Mein Herz brennt in mir, wenn er hinter einer Maske um Luft ringt, um mich vor seiner Krankheit zu schützen.

Mein Herz brennt in mir, wenn Claire das Essen, das ich gerade für sie gekauft habe, ihrem Sohn gibt, damit er zuerst davon isst.

Ich sehe unendlich viele Dinge, die mein Herz brennen lassen. Ich hoffe, Sie haben ebenso viel Glück. Ich weiß, Sie kennen das Gefühl. Aus der Natur, der Musik, der Kunst, aus heiligen Büchern, aus menschlicher Größe.

Ich wünsche Ihnen Mut und Frieden. Und ich danke Ihnen wie immer für Ihre großzügige Hilfe, mit der Sie es uns ermöglichen, unsere Arbeit das ganze Jahr über fortzusetzen.

Pater Richard Frechette, CP
Port-au-Prince, Haiti