Vera Hornung, 32 Jahre alt, wurde im Juli 2012 von NPH Kinderhilfe Lateinamerika ins mexikanische Kinderdorf in Miacatlán geschickt, um als Freiwillige für ein Jahr dort zu arbeiten. Zuvor hatte sie Internationales Recht mit einer Spezialisierung im Bereich Menschenrechtsschutz studiert. Ihr erklärtes Ziel war, in einer internationalen Kinderhilfsorganisation zu arbeiten. Nach dem freiwilligen Jahr bot man Vera eine Stelle im Kinderdorf an, die sie sehr gern annahm. Die nph-Familie und vor allem die Kinder waren ihr sehr ans Herz gewachsen.
nph: Als nur wenige Tage nach dem schweren Beben erneut die Erde zu wackeln begann, wo waren Sie da?
Vera Hornung: Ich war auf dem Weg zum Gottesdienst im Kinderdorf in Miacatlán. Aus beiden Kinderdörfern waren alle Kinder und Jugendliche sowie unsere Mitarbeiter mit ihren Familien eingeladen, um diesen Tag mit der ganzen nph-Familie zu verbringen. Das erneute Beben am Samstag, den 23.09.2017, war in Miacatlán und Cuernavaca zum Glück kaum zu spüren.
nph: Am Dienstag, 19.09.2017, lag das Epizentrum des Bebens der Stärke 7,1 unter anderem im Bundesstaat Morelas. Dort befindet sich auch das Kinderdorf. Sie waren zu der Zeit vor Ort. War das beängstigend?
Vera Hornung: Am Dienstag passierte es um 13.14 Uhr. Ich war gerade im Büro der Schuldirektorin der Sekundaria. Die Erde bebte stark. Sofort liefen wir zum Schulhof. Die Ungewissheit, ob alle Schüler rechtzeitig die Klassenräume verlassen hatten, um sich an den bekannten Treffpunkten zu sammeln, war groß. Wir alle waren sehr aufgeregt und erschrocken. Das Beben dauerte an - wir waren dem hilflos ausgeliefert. Sekunden kamen mir vor wie Stunden. Einige Kinder weinten. Ich hoffte so sehr, dass keine herabfallenden Steine oder Bäume uns begruben. Für einen kurzen Moment dachte ich, der Boden unter meinen Füßen reißt gleich auf. Ich war sehr überwältig, auch wegen der großen Verantwortung für die Kinder. Wir hatten für ihre Sicherheit zu sorgen. Im Nachhinein, als ich das ganze Ausmaß der Zerstörung sah, war ich sehr dankbar, dass alle Kinder gesund und die Evakuierung aus den Schulräumen kontrolliert und schnell abgelaufen war.
Ein Clown wurde engagiert, um die Kinder abzulenken und gerade die verängstigten auf andere Gedanken zu bringen
nph: Wie werden besonders verängstigte Kinder betreut?
Vera Hornung: Es ist sehr beeindruckend, wie liebevoll die Betreuer sich rund um die Uhr um die nph-Kinder kümmern, und dass obwohl sie auch eine eigene Familie haben. Damit die Kinder abgelenkt sind, wird eine große Anzahl von Aktivitäten durchgeführt. Obwohl kein Schulunterricht stattfindet, sind die Lehrkräfte da und beschäftigen die Schüler. Es wird mit den unterschiedlichsten Materialien gearbeitet. Das hilft den Kindern, ihre Ängste und Sorgen auszudrücken und sich zu entspannen.
Wichtig war auch das Zusammentreffen aller zum gemeinsamen Gottesdienst in Miacatlán am Samstag. Viele haben Geschwister in Cuernavaca und sich große Sorgen gemacht, ob es ihnen gut geht. Sie sollten gemeinsam eine entspannte Zeit verbringen.
nph: Die Schäden an einigen Gebäuden sind beträchtlich. Haben Sie nach dem Beben die Häuser betreten?
Vera Hornung: Für den restlichen Tag und auch die erste Nacht durfte niemand die Gebäude betreten. Erst nachdem am nächsten Tag Mitarbeiter von der Behörde für Bevölkerungsschutz überprüft hatten, ob Häuser weiterhin nutzbar beziehungsweise einsturzgefährdet sind, durften einzelne wieder betreten werden. Im Kinderdorf in Miacatlán wurden die Küche und der Speisesaal stark beschädigt und sind zurzeit nicht benutzbar.
nph: Und wo kochen und essen Sie jetzt?
Vera Hornung: Es wurde ein provisorischer Küchenbereich im Freien eingerichtet. Die Kinder und Mitarbeiter essen seitdem im Hof. Leider gibt es keinen Schutz gegen die starke Sonneneinstrahlung am Tag und gegen die kräftigen Regenschauer abends. Momentan ist Regenzeit, die noch einen Monat andauernd wird.
Die Kinder müssen im Freien essen, da der Essraum einsturzgefährdet ist.
nph: Kam es zu weiteren Schäden?
Vera Hornung: Die Außenmauer um das Kinderdorf wurde stark beschädigt, zum Teil klaffen große Löcher in der Mauer. Aus Sicherheitsgründen für unsere Kinder und Mitarbeiter muss sie so schnell wie möglich wieder aufgebaut werden. Außerdem wurden einige Schlafräume der Kinder und das Schulgebäude leicht beschädigt. Deshalb schliefen die Kinder auch die erste Nacht im Freien. Die Schule wurde bis auf Weiteres geschlossen. Nach Einschätzung der Behörden sind sie weiterhin nutzbar, müssen vorher aber repariert werden.
In Casa Buen Señor in Cuernavaca, dort leben die Jugendlichen, die aufs Gymnasium gehen, ist das Wohnhaus der Jungen nicht mehr benutzbar. Bis auf Weiteres leben die 60 Jungen im unteren Teil des Mädchenwohnhauses. Die Mädchen wohnen jetzt alle zusammen im oberen Geschoss. Außerdem ist Casa Nolan, das Haus, in dem die Freiwilligen, einige Mitarbeiter und Besucher untergebracht sind, sehr beschädigt. Es ist einsturzgefährdet und muss abgerissen werden.
nph: Wie sieht Ihr Alltag, wenn man überhaupt von Alltag sprechen kann, im Moment aus?
Vera Hornung: Ich persönlich fühle mich sehr nervös und sensibel seit dem Erdbeben. Bei jedem Wackeln denke ich, es könnte ein Nachbeben sein. Es dreht sich im Moment alles um Soforthilfe, emotionale Unterstützung und Wiederaufbau. Ich denke, es wird noch einige Zeit dauern, bis sich alles etwas beruhigt.
nph: Welche Schritte müssen so schnell wie möglich eingeleitet werden?
Vera Hornung: Neben der Küche und dem Speisesaal muss die Schule sowie das Wohnhaus der Jungen in Cuernavaca schnellsten repariert beziehungswiese neu aufgebaut werden. Nur so kann man zu einer gewissen Normalität zurückkehren. Es ist für die Kinder und Jugendlichen sehr wichtig, dass sie zu einem geregelten Alltag zurückfinden. Und natürlich steht die Reparatur der Außenmauer ganz oben auf der Liste. Die Sicherheit der Kinder und Mitarbeiter hat oberste Priorität.
Der nph-Mitarbeiter Ricardo Velasso Klayen spricht mit einer Familie in der Gemeinde Coatetelco, dessen Haus komplett zerstört ist. Die Familie lebt jetzt unter einer Plane.
nph: Gehen Sie auch in die benachbarten Gemeinden, um den Menschen dort zu helfen?
Vera Hornung: Ja, wir besuchen die Gemeinden in der Umgebung, zum Beispiel in Miacatlán und Coatetelco, um zu sehen, was am dringendsten benötigt wird. Außerdem versuchen wir Ehemaligen, Angehörigen der Kinder als auch Mitarbeitern zu helfen.
nph: Wie stark sind die angrenzenden Dörfer zerstört? Gab es auch Verletzte zu beklagen?
Vera Hornung: Die umliegenden Gemeinden wurden sehr stark betroffen. Viele Häuser, Kirchen, Geschäfte, sogar Autobahnbrücken sind eingestürzt. Auch in Cuernavaca und Miacatlán gab es Tote.
nph: In den deutschen Medien wird immer wieder von der beispiellosen Hilfsbereitschaft untereinander berichtet. Trifft das auch auf Ihre Gegend zu?
Vera Hornung: Ja, es herrscht eine beispiellose gegenseitige Hilfsbereitschaft im ganzen Land. Auf den Autobahnen sieht man Lastwagen aus allen Staaten, die Soforthilfe für betroffene Städte und Gemeinden liefern. Besonders viele junge Menschen sind auf den Straßen und helfen, wo sie gerade gebraucht werden. Ob Trümmer wegräumen, Hilfsgüter sortieren und verteilen, überall wo hilfreiche Hände gebraucht werden, sind sie zur Stelle. Unsere Kinder und auch wir Mitarbeiter sind sehr beeindruckt, wie viele Menschen überall ihre Hilfe anbieten.
Über die Fortschritte der Aufräumarbeiten und der Instandsetzung werden Sie weiterhin informiert. Um die Schäden zu beheben werden dringend Spenden benötigt. Bitte helfen auch Sie den Erdbebenopfern!
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