Der gebürtige Haitianer Cassagnol Destiné (35) arbeitet seit Februar 2010 für NPH Kinderhilfe Lateinamerika. Direkt nach dem Erdbeben wurde er eingesetzt, um unsere Mitarbeiter in Haiti zu unterstützen, die nph-Hilfsprojekte schnell und effizient umzusetzen. Von seinem Alltag in Haiti erzählt er: „In Haiti angekommen, fühle ich mich zu 100% wie ein Haitianer. Dann kremple ich die Ärmel hoch und arbeite 12, 14 Stunden täglich. Du denkst nicht nach, du tust einfach." Wie es ihm und den anderen nph-Mitarbeitern dabei geht und wie es in Haiti heute, vier Jahre nach dem Erdeben aussieht, das erzählt er im Interview.
Cassagnol Destine ist gelernter Holztechniker und hat Politikwissenschaften und Sozialpädagogik studiert. Nach Deutschland kam er erstmals im Jahr 2000 im Rahmen einer Weiterbildung. Vor seiner Zeit bei nph hat Cassagnol schon bei mehreren anderen NGOs, die in Haiti tätig sind, an Projekten gearbeitet.
Cassagnol, wie sieht es heute, vier Jahre nach dem Erdbeben in Haiti aus?
Auf den ersten Blick scheint langsam eine „Normalität“ eingekehrt zu sein, die dem Stand von vor dem Erdbeben, also von 2009, entspricht. Die Entwicklungen, die sich sehen lassen, sind erneuerte Straßen, renovierte Häuser, Zeltstädte, die nach und nach in den Hintergrund rücken. Doch gleichzeitig wissen wir, dass keine Makroprojekte entstanden sind, die eine nachhaltige Verbesserung bringen würden.
Wo sind die Menschen hin, die in den Zeltstädten gelebt haben?
Ein Teil von ihnen wurde in Wohnprojekten von NGOs am Stadtrand untergebracht. Diese sind als Übergangslösung gedacht worden, doch sie haben sich zu einem dauerhaften Zustand entwickelt. Der Großteil der Menschen ist in Cannaan (naher Ort im Norden von Port-au-Prince, Anm.) untergebracht. Dort wurden ebenfalls von der Regierung und NGOs einige vorübergehende Wohnprojekte geschaffen, jedoch ohne jegliche Basisinfrastruktur. Die meisten Menschen haben ihre Zelte in der Stadt abgebaut und dort wieder aufgebaut. Diese provisorischen Wohnlösungen haben zu einer zunehmenden Verslumung geführt.
Es wird davon ausgegangen, dass noch 300.000 Menschen in den Zeltstädten leben. Werden die Menschen, die in den Wohnprojekten leben, ebenfalls dazugezählt?
Nein. Die Zahl 300.000 mag in etwa stimmen, was die Menschen in den Zeltstädten betrifft. Aber es sind weit, weit mehr, die in provisorischen Unterkünften leben und noch immer kein richtiges Dach über dem Kopf haben.
Cholera ist vier Jahre nach dem Erdbeben noch immer ein großes Problem. Warum ist das nicht in den Griff zu kriegen?
Nun, da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Fehlende Infrastruktur, kein Zugang zu hygienischen Einrichtungen, katastrophale Wohnsituationen – die Basisbedürfnisse, die dazu führen würden, die Cholera einzudämmen und Infizierungen zu verhindern, sind einfach nicht erfüllt. Vor allem nach Regenfällen kommt es schnell zu Neuinfizierungen.
nph ist derzeit die einzige Einrichtung in Port-au-Prince und Umgebung, die Cholerapatienten aufnimmt. Nach dem Choleraausbruch gab es viele Organisationen, die dies getan haben. Doch sie haben akute Nothilfe geleistet und sind dann wieder abgezogen. In Haiti haben wir aber leider das Problem, dass es jedes Jahr nach heftigem Regen erneut zu Neuinfizierungen kommt. Unser Cholerakrankenhaus ist täglich überfüllt, doch wir müssen für die Menschen da sein. Niemand darf weggeschickt werden.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten, die schon behandelt wurden, sich erneut infizieren?
Sehr groß! Denn, wie ich schon angesprochen habe, aufgrund der mangelnden hygienischen Einrichtungen und auch aufgrund von mangelndem sauberen Trinkwasser, kommt es vor allem nach Regenfällen zu neuen oder wiederholten Infizierungen. Manche Cholerapatienten waren schon zwei oder drei Mal bei uns.
Wie unterscheidet sich die Arbeit von nph in Haiti von anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen nph tätig ist?
Die Grundidee von nph war es, verlassenen Kindern und Kindern in Not ein Zuhause zu schenken. In Haiti tun wir weit mehr als diese „Grundversorgung“. Nachdem wir das Kinderdorf in Kenscoff im Jahr 1987 gegründet hatten, haben wir erkannt, dass die Not weit größer ist und wir viel mehr für die Menschen in Haiti tun müssen. Zunächst war es uns wichtig, dem Grundsatz „Gesundheit als Menschenrecht“ gerecht zu werden. Wir haben in Tabarre bei Port-au-Prince das einzige Kinderkrankenhaus mit Krebsstation errichtet. Das ist „St. Damien“.
Wir betreiben noch viele weitere medizinische Einrichtungen, zu denen die bereits erwähnte Choleraklinik gehört. Ein weiterer Schwerpunkt ist Ausbildung. Wir betreiben 28 Straßenschulen, auch in entlegenen Provinzen, um den Familien dort Schulbildung für ihre Kinder zu ermöglichen und der Landflucht entgegenzusteuern. Wir haben ein zweites Kinderdorf im Rahmen unseres Notprogrammes „Engel des Lichts“ in Port-au-Prince gegründet, Einrichtungen für behinderte Kinder, eine Berufsschule und so weiter. Man kann sagen, in Haiti haben wir die meiste Arbeit, doch auch die größte Not. Und wir bleiben bei den Menschen in Haiti so lange sie uns brauchen.
Wie erlebst du den Alltag in Haiti wenn du dort bist?
In Haiti angekommen, fühle ich mich wieder zu 100% wie ein Haitianer. Dann kremple ich die Ärmel hoch und arbeite, manchmal 12 oder 14 Stunden täglich, um all das zu schaffen, was notwendig ist. Du denkst nicht nach, du tust einfach. Angesichts der großen Not fällt es einem nicht schwer, seine letzten Kräfte einzusetzen.
Die nph-Mitarbeiter in Haiti erleben das jeden Tag. Wie fühlen sie sich dabei?
Sie sehen die Arbeit als ihre Lebensaufgabe. Die meisten unserer Mitarbeiter sind schon viele Jahre bei nph und fühlen sich der großen nph-Familie zugehörig. Für deine Familie tust du alles. Du erträgst die größte Not und bekommst gleichzeitig das größte Glück geschenkt. Sei es das Lächeln eines Kindes oder der Dank eines Patienten, der gesund geworden ist. Der Familiengedanke spielt bei nph eine große Rolle und ist zentraler Bestandteil unserer Philosophie.
Manche Experten sehen im Tourismus eine Chance für Haiti, wieder auf die Beine zu kommen. Was denkst du darüber?
Meine Meinung ist gespalten. Einerseits würde ich mir natürlich sehr wünschen, dass Haiti dank Tourismus seine Wirtschaft ankurbelt und so in Infrastruktur und nachhaltige Entwicklung investieren kann. Andererseits frage ich mich: Wie kann so ein Tourismus aussehen? Massentourismus kann es nicht sein, es sollte ein Art von Tourismus entstehen, der Land und Leute einbezieht, die Ressourcen, die Haiti hat, nutzt. Die Touristen, die unser Land besuchen, sollten als Botschafter Haitis in ihre Länder zurückkehren. Leider ist die Situation jetzt so, dass Haiti in Zusammenhang mit Gefahr und Kriminalität betrachtet wird. So lange dieser Zustand anhält, werden wir kein Bild von Haiti vermitteln können, das wir uns wünschen. Die meisten Besucher unseres Landes sind derzeit NGO-Mitarbeiter. Natürlich haben wir auch jetzt schon Tourismus, aber Haiti profitiert von diesem Tourismus nicht. Die Touristen auf Labadee (Halbinsel im Norden Haitis, Anm.) zum Beispiel sind völlig abgeschottet von dem wahren Haiti. Oft wird den Gästen auf den großen Kreuzfahrtschiffen gar nicht erst gesagt, dass sie sich in Haiti befinden, denn unser Land weckt nur negative Assoziationen. Dabei befinden wir uns in der Karibik, einer der schönsten Gegenden auf dieser Welt. Ich glaube fest daran, dass wir mehr aus dem Tourismus rausholen können. Aber das geht erst dann, wenn die Grundbedürfnisse der Menschen in Haiti erfüllt sind.
Vielen Dank für das Gespräch!
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