Unser Interviewpartner Markus Streit arbeitet seit 17 Jahren als Bildungsexperte für Lateinamerika und hat insgesamt zwei Jahre mit seiner Familie in der Region verbracht. Derzeit ist er pädagogischer Koordinator für die nph-Kinderhilfe. In der aktuellen Situation steht er in besonders engem Kontakt mit seinen Kolleginnen und Kollegen vor Ort.
Wie ist die Situation der nph-Kinder und –Jugendlichen in den Kinderdörfern?
Markus Streit: „Stand heute (21.4.2020) geht es den Kindern in unseren Kinderdörfern gut, soweit ich informiert bin. Die Betreuer und Erzieher geben sich große Mühe, sowohl Viren als auch Angst von den Kindern und Jugendlichen fernzuhalten. Das Coronavirus ist jetzt etwas Neues und auch für uns Erwachsene eine im wahrsten Wortsinne ‚unfassbare’ Situation. Wir wissen nicht, was passiert, wir können die Situation nicht einschätzen. Es wäre aber fatal, wenn die Kinder und Jugendlichen spüren, dass die Menschen, die ihnen eigentlich Sicherheit geben, selbst total verunsichert und verloren sind. Im schlimmsten Fall würden die Kinder ein Flashback erleben und sich wieder in der Situation finden, verloren, hilflos oder sogar bedroht zu sein.“
Viel Freizeit lässt Raum für Kreativität, zum Beispiel beim Basteln.
Wie kommen solche Flashbacks zustande?
Markus Streit: „Viele der Kinder und Jugendlichen in der Obhut von nph sind früher in ihrem Leben durch traumatische Situationen gegangen. Sie haben Gewalt erlebt, wurden nicht richtig versorgt oder mussten hungern. Ihnen fehlte jeglicher Halt. Sie hatten ihr Urvertrauen in die Welt, in andere und auch in sich selber verloren. Die Situation jetzt mit Corona kann sie daran erinnern oder sogar in die Situation zurückversetzen, wie sie sich damals gefühlt haben. Aber wir bemühen uns, dass das nicht passiert.
Unser Konzept im Umgang mit Kindern baut auf Sicherheit auf. Es ist uns wichtig, dass sie etwas zu essen bekommen, wenn sie Hunger haben, dass sie jemanden zum Kuscheln haben, wenn sie Nähe suchen, dass sich jemand mit ihnen beschäftigt, wenn sie sich langweilen. Sie spüren: Es ist jemand da für mich. Hier hört mir jemand zu. Hier ist mein Platz. Hier passiert mir nichts.“
Wie halten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Angst von den Kinderdorf-Kindern fern?
Markus Streit: „An erster Stelle steht, dass die Erwachsenen ihre eigene Panik und Unsicherheit nicht auf die Kinder übertragen. Die haben genug mit ihren eigenen Ängsten zu tun. Diese müssen wir als verantwortliche Erwachsene ernst nehmen und den Kindern gleichzeitig weiterhin wie gewohnt Sicherheit vermitteln. Es hilft den Kindern, wenn wir mit ihnen sprechen und ihnen erklären, was das für ein Virus ist, wie man sich schützen kann. Wir haben Lernmaterialien für alle Altersgruppen vorbereitet, damit auch die Betreuerinnen und Erzieherinnen eine Hilfestellung haben.“
Als eine Sicherheitsmaßnahme hat nph den Publikumsverkehr in den Kinderdörfern stark reduziert.
Mit altersgerechten Materialien haben alle Kinder und Jugendlichen gelernt, was das Coronavirus ist und wie man sich davor schützen kann.
Was bedeutet das für den Kontakt der Kinder in den Kinderdörfern mit ihren leiblichen Familien außerhalb?
Markus Streit: „Unsere Kinder machen sich Sorgen um ihre Familien. Sie wissen, dass ihre Verwandten zum Beispiel eine chronische Krankheit haben oder sich keinen Arztbesuch leisten können. Sie sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Wir bemühen uns darum, alle Beteiligten – also Kinder und ihre leiblichen Verwandten – möglichst gut auf dem Laufenden zu halten. Das läuft über Telefonkontakt. Gleichzeitig achten wir darauf und erklären den außerhalb des Kinderdorfs lebenden Verwandten auch, dass sie die Kinder nicht zusätzlich ängstlich machen dürfen mit ihrer eigenen Angst. Der Kontakt aber ist wichtig.“
Merken Kinder nicht, wenn ihnen Erwachsene etwas vormachen? Sorglosigkeit zum Beispiel?
Markus Streit: „Ja, unbedingt. Aber es geht ja nicht darum, unehrlich zu sein. Sondern darum, dass die Erwachsenen sich und ihre eigenen Gefühle etwas zurücknehmen und ihre Emotionen nicht ungefiltert weitergeben. Aus diesem Grund haben wir auch eine Handreichung für unsere Mitarbeitenden entwickelt, damit sie selbst in der Coronakrise mental gut klarkommen.“
Die Erzieherinnen und Erzieher unterstützen die Kinder dabei, die Aufgaben der Lehrer aus ihren jeweiligen Schulen zu bearbeiten.
Was steht da zum Beispiel drin?
Markus Streit: „Wir wollen den Betreuerinnen und Betreuern im Kontakt mit den Kindern, aber auch den anderen Kolleginnen und Kollegen helfen, sich ihrer Gefühlt bewusst zu werden. Natürlich ist Corona ein ernstes Problem. Aber derzeit gibt es ja keinen Grund, in Panik zu verfallen. Zum Beispiel stellen wir Fragen wie: ‚Was kannst du kontrollieren? Wie kannst du dich selber beruhigen? Woher stammen deine Informationen? Sind sie verlässlich?’ Auch in Lateinamerika kursieren Falschinformationen, die dann zu Paniksituationen führen können. “
Letztendlich geht es um die Regeln der Achtsamkeit?
Markus Streit: „So kann man das sehen. Wenn ich morgens erstmal in mich hineinspüre und merke, ich bin gesund und tatkräftig, fängt der Tag schon viel besser an, als wenn ich mit Panik und Angst an meine Aufgabe und an die Menschen um mich herum herangehe. – Gleichzeitig ermutigen wir unsere Mitarbeiter, miteinander zu sprechen und sich gegenseitig Wertschätzung zu schenken.“
Sicher vermissen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch ihre Familien?
Markus Streit: „Es ist eine ganz verrückte Situation. Manche hat die Ausgangssperre zuhause erwischt und sie würden gerne arbeiten kommen. Das geht aber wegen der Straßensperren nicht. Militär und Polizei kontrollieren die Reiseverbote teilweise sehr strikt. Andere Betreuerinnen und Betreuer werden zuhause gebraucht, sind aber im Kinderdorf. Teilweise sind noch ältere nph-Kinder aus ihren Studienorten zurück ins Kinderdorf gekommen, um zu helfen.“
Worauf achten die Betreuer besonders?
Markus Streit: „Innerhalb der Kinderdörfer leben in der Regel etwa zwölf Kinder und ihre Betreuer in einem Haus zusammen. Da ist immer etwas los und so ein Ausnahmezustand und das Fehlen der Schule machen sich zunächst nicht stark bemerkbar. Aber auf Zeit wird es schwierig, den Lagerkoller zu vermeiden beziehungsweise damit umzugehen. Damit das Gefühl der Krise nicht übermächtig wird, raten wir dazu, den Tag gut einzuteilen in kleine Einheiten. Wenn man sich morgens überlegt, was man am Tag tun und schaffen will, kann man abends auf etwas Konkretes zurückblicken. Man fühlt sich weniger verloren in der Zeit. Eine feste Struktur gibt den Kindern und den Erwachsenen Halt.
Die Gruppendynamik in Balance zu halten, ist keine einfache Aufgabe. Da müssen die Erzieher auch gut darauf schauen, dass es ihnen selbst gut geht. Denn einige der Kinder haben schlimme Dinge erlebt und sind im Alltag entsprechend auch nicht immer einfach. Gegenseitige Achtsamkeit und Wertschätzung stärken den Betreuerinnen und Betreuern auch den Rücken.“
Damit sich die Tage nicht in die Länge ziehen, achten die Erzieherinnen und Erzieher darauf, dass sich Beschäftigung und Freizeit abwechseln. Eine klare Tagesstruktur gibt Sicherheit in unsicheren Zeiten.
Gibt es auch Lichtblicke in der Coronakrise?
Markus Streit: „Ja, einige, zum Glück. Wie bereits erwähnt, spüren wir den starken Familiensinn der ehemaligen Kinderdorfkinder, die freiwillig zurückkommen, um zu helfen. Wir versuchen natürlich, in den Gemeinden um die Kinderdörfer herum mit Lebensmitteln oder anderen dringend benötigten Gütern zu helfen. Besonders die Familien der Kinder, die normalerweise täglich zu uns in die Schule kommen, liegen uns da am Herzen. Umgekehrt erreicht uns auch viel Solidarität und Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung. So haben wir beispielsweise von einer Kirchengemeinde in Peru eine Menge Mandarinen geschenkt bekommen.“
Damit die nph-eigene Landwirtschaft zur Selbstversorgung weiter betrieben werden kann, fassen in der Krise erwachsene ehemalige nph-Kinder mit an.
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