Liebe Freunde und Familie,
die Glücklicheren unter uns feiern Weihnachten in diesem Jahr wieder mit einem festlich erleuchteten Christbaum, der den Baum des Lebens im Garten Eden symbolisiert.
„Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, stehen Bäume des Lebens. Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal; und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.“ (Offb 22,2)
Weihnachten in Haiti steht dieses Jahr im Zeichen eines anderen Baums: des umgestürzten, umgeknickten, kahlen Baums. Es ist der Baum aus dem Garten der Zerstörung.
Einige Tage nachdem Hurrikan Matthew weite Teile Haitis verwüstet hatte, machten wir uns auf den Weg in die Gegend von Jérémie, um mit den Menschen zu besprechen, wie wir am besten helfen könnten. Den Hauptteil der Strecke legten wir nachts zurück, da wir tagsüber noch jede Menge Arbeit in Port-au-Prince zu erledigen hatten.
Wir kämpften uns durch tiefen Schlamm und durch Wasserläufe, die von umgestürzten Bäumen blockiert wurden, und mussten uns mit Buschmessern einen Weg bahnen. Die Dunkelheit verschluckte alle Farben. Gleich Skeletten, die ihre Arme in der Finsternis flehend erhoben, reckten die noch stehenden Bäume ihre kahlen Äste gen Himmel.
Als sich der Morgen endlich unser erbarmte und die Sonne die ersten Strahlen zur Erde sandte, bot sich nicht der gewohnte Anblick einer in schillernde Farbenpracht getauchten Landschaft. Der Himmel war düster und wolkenverhangen. Alle Lebenskraft schien aus den Bäumen und Gärten gewichen, die von einer gräulichen Schlammschicht überzogen waren. Die Landschaft wirkte wie ein Gräberfeld.
Die Umgebung von Jeremie am Tag nachdem Hurrikan Matthew über das Land zog.
Immer mehr Menschen kamen aus ihren dachlosen Behausungen, um mutig dem neuen Tag entgegenzutreten. Draußen fanden sie zerstörte Gärten und ertrunkenes Vieh vor. Ich sah eine alte Frau, die äußerst wacklig auf den Beinen war und trotzdem versuchte - mit nur einem guten Auge und einem Gehstock aus einem knorrigen Ast - durch den Schlamm zu waten. Ich fragte sie nach ihrem Befinden.
„Wir sind noch nicht ganz tot, mein Freund. Wir sind noch da!“
Die Straße wurde von bettelnden Kindern gesäumt. Mit ihren ausgestreckten Armen sahen sie aus wie die Geisterbäume, die sie umgaben. Doch ihre Augen waren warm und durchdringend.
„Bitte, Fremder, gib mir etwas, irgendetwas.“
An Weihnachten wird es zwei Arten von Kindern auf der Welt geben:
Glückliche Kinder, auf die morgens ein reich gedeckter Frühstückstisch wartet und unter deren Weihnachtsbaum Geschenke liegen, und viele andere Kinder, die hungrig durch die Straßen laufen und betteln, um wenigstens irgendeine Kleinigkeit zu bekommen.
In der Folgezeit flogen wir einige Male mit Hubschraubern in die Gegend von Jérémie, um vor Ort zu helfen. Dreißig Tage später reisten wir jedoch erneut auf dem Landweg. Es war ein wunderschöner Anblick. Die Sonne war in diesen dreißig Tagen gütig zu dem Landstrich gewesen. Dank der vielen sonnigen Tage hatte sich die Vegetation erholt und ihre üppige Farbenpracht zurückgewonnen. Die jungen Triebe schossen aus dem Boden und die Bäume trieben kleine Knospen. Der ein oder andere Vogel fand einen Ast, auf dem er sich niederlassen und singen konnte.
Die Menschen hatten begonnen, die umgestürzten Bäume zu Brettern zu verarbeiten und umgefallene Bananenstauden wieder aufzurichten. Sie stapften mit Maultieren durch den zähen Schlamm, um zum Markt in Abricots zu gelangen.
Die langsame Rückkehr des Lebens, die sich in der wundervollen Erneuerung der Natur in diesen dreißig Tagen zeigt, ist ein passendes Bild für die dreißigtägige Reise zum Weihnachtsfest, die wir „Advent“ nennen.
Das ist der Advent:
Die von Kriegen und Hungersnöten erschöpfte Menschheit ruft in ihrer Trostlosigkeit und Gebrochenheit mit gen Himmel erhobenen Armen nach Gott und vernimmt das Versprechen der großen Propheten, dass der Messias kommen wird.
Im Himmel wie auf Erden beginnt man, sich vorzubereiten, Buße zu tun und neue Lebenszeichen zu zeigen. Ein Heiland wird der Welt geboren. Der Erlöser wird uns das rechte Leben und den Weg des Friedens lehren. Er verspricht allen, die mutig genug sind, ihm zu folgen, die Überwindung des Todes.
Nach dieser langen Vorbereitungszeit feiern wir an Weihnachten, dass der Heiland wahrhaftig in unsere Geschichte und unsere menschliche Gemeinschaft geboren wurde, und geloben, den Mut aufzubringen, seinem Weg zu folgen.
Wie die Erde durch das großzügige goldene Sonnenlicht verwandelt wird, so verwandeln auch wir uns durch das Wirken des Heilands in uns, durch unsere Sehnsucht nach Frieden auf Erden, nach Wohlwollen gegenüber allen Menschen, nach dem Sieg der Barmherzigkeit und danach, die Segnungen all dessen zu teilen, was uns geschenkt wurde. Unsere Herzen erfahren eine Veränderung und werden ebenfalls golden. Auch wir tragen so dazu bei, dass „die Blätter der Bäume des Lebens zur Heilung der Völker dienen“.
„Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ (Ez 36,26)
Das Jahr 2016 neigt sich dem Ende zu, und wir danken Ihnen für all die Liebe, die Sie den Menschen in Haiti schenken. Wir danken Ihnen für Ihr Herz von Fleisch, das die Qualen der Notleidenden wahrnimmt und mit Großmut darauf reagiert.
Wir danken Ihnen für Ihr Weihnachtsherz.
Dank Ihres Wohlwollens wird Weihnachten für Tausende Familien in Haiti ein froheres Fest werden: Sie erhalten Lebensmittel und Saatgut für ihre Gärten, neue Bananenstauden und Kokospalmen, sie werden wieder Tiere in ihren Ställen haben, ein einfaches Dach über ihren Köpfen und vor allem das warme Gefühl, dass es jemanden gibt, der sich um sie sorgt.
Einwohner eines Dorfes in der Gegend von Jeremie.
Frohe Weihnachten und ein gesegnetes neues Jahr für Sie und Ihre Lieben – das wünschen wir Ihnen, verbunden mit unserem herzlichen Dank,
Pater Richard Frechette, CP
Leiter der Einrichtungen von nph haiti
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